Leben, schreiben, atmen by Doris Dörrie

Leben, schreiben, atmen by Doris Dörrie

Autor:Doris Dörrie
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783257609752
Herausgeber: Diogenes Verlag AG


Der Moment

Immer wieder kehrt sie zurück zu diesem Moment, dem Moment davor und dem danach. Davor steht sie auf dem Marktplatz der kleinen Stadt. Es gibt die ersten Erdbeeren, wie angemalt leuchten sie rot auf den Marktständen zwischen Salat und Mohrrüben. Sie sitzt mit dem Kind auf einer Bank in der Sonne, sie essen Erdbeeren. Das Kind ist vergnügt. Sie ist vergnügt. Und dann. Das, wovor sie sich ihr Leben lang am meisten gefürchtet hat, tritt ein. Oder tritt auf wie der rabenschwarze Bösewicht auf der heiteren Bühne. Als habe er nur darauf gelauert und Anlauf genommen, um sie in einem sonnenbeschienenen Augenblick anzuspringen, seine Krallen in ihr Fleisch zu schlagen, sie zu beuteln und zu zerfetzen. Aber noch ahnt sie nichts. Sie isst Erdbeeren mit ihrem Kind.

Gestern sind sie alle drei baden gewesen an einem verwunschenen See mit gelben Seerosen. Er trägt eine schwarz-weiß gestreif‌te Badehose, er hat einen schönen glatten Körper, einen Jungenkörper. Er ist noch jung, gerade noch jung, aber er hat Angst, dass er mit seinen grauen Haaren für den Großvater des Kindes gehalten wird. So ein Quatsch. Sie lacht ihn aus. Sie ist jünger als er, noch richtig jung, aber seit der Geburt des Kindes fühlt sie sich weder jung noch alt. Sie bekommt sich nicht zurück, so wie sie war, aber sie weiß auch nicht mehr, wer sie gern wäre. Sie ist erfolgreicher als er, verdient mehr Geld, sie ernährt die Familie, aber tut so, als sei das nicht wahr, weil sie weiß, dass er das nicht gut verkraftet. Versagensängste quälen ihn, deshalb arbeitet sie fast heimlich, ganz schnell. Keiner soll darunter leiden, dass sie arbeitet, weder das Kind noch er.

Sie sitzt neben dem Kind im Gras, er springt von einem Steg ins Wasser, macht einen Bauchklatscher, sie lacht. Sieht ihm beim Schwimmen zu. Er schwimmt weit hinaus. Wenn sie schwimmt, weint das Kind am Ufer bitterlich, und nichts kann es trösten. Es ist überzeugt, dass sie niemals zurückkehren wird. Deshalb schwimmt sie nicht. Sie winkt ihrem Mann zu, aber er winkt nicht zurück, er lacht auch nicht, das weiß sie noch, als er aus dem Wasser kommt. Er beschwert sich über Bauchschmerzen. Das war der Bauchklatscher, sagt sie. Das Kind und sie kichern.

Am Abend sind die Bauchschmerzen immer noch nicht vergangen. Jetzt nennt er es Sodbrennen. Das hatte sie während der Schwangerschaft. Sie gibt ihm Nüsse zu knabbern. Er jammert weiter. Meine Güte. Wegen eines bevorstehenden Feiertags und langen Wochenendes rät sie, gleich morgen zum Arzt zu gehen und sich ein Medikament gegen Sodbrennen zu holen, denn sonst hat er womöglich vier Tage hintereinander Sodbrennen und schlechte Laune. Wenn er schlechte Laune hat, zieht er sich zurück wie eine Schildkröte in ihren Panzer. Davor fürchtet sie sich.

Sie sitzt immer noch auf der Bank mit der Erdbeertüte in der Hand, als sie ihn von weitem sieht. Er geht anders. Er sieht anders aus. Sie weiß es, bevor sie es von ihm erfährt.

Fußballgroß, habe der Arzt gesagt.

Sie versucht, sich einen Fußball in seinem Bauch vorzustellen. Den müsste sie doch bemerkt haben.



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